Der Sprung - von Ute Migdalek

Als ich mein Geschenk erhielt war ich auch überrascht, aber ein leiser Zweifel, ob ich genügend Mut hätte, schlich sich ein. Wundersamerweise waren meine anfänglichen Zweifel schon bald nicht mehr vorhanden. Ich spürte nur noch eine freudige Erregung, die auch in den nächsten Tagen anhielt.

Ich machte als Termin Sonntag den 9.10.2005 aus und hoffte auf schönes Wetter. Alternativ ging nur noch das darauf folgende Wochenende, dann wäre die Saison beendet und ich könne erst wieder ab April 2006 springen. Im Laufe der Woche vor dem 9.10. zeichnete es sich immer deutlicher ab, dass das Wetter Samstag super, aber Sonntag schlecht werden würde. Ich gestehe: Ein paar wenige Minuten lang war ich versucht mich darüber zu freuen, erst im nächsten Jahr zu springen, aber die Spannung, die Neugier und auch die Lust waren stärker. Ich rief an und vertagte auf Samstag, den 8.10.

Bei strahlend blauem Himmel fuhren mein Mann, meine Freundin und ich gegen Mittag zum Flugplatz „Hungriger Wolf“. Ich hatte mir abends zuvor beim Einschlafen genau vorgestellt, wie es wohl ist, aus einem Flugzeug zu springen - und auch bei diesem Gedanken keine Angst verspürt. Jetzt auf der Fahrt war ich wohl aufgeregt, aber keineswegs ängstlich. Der Flugplatz war schnell gefunden. Vor einer großen Halle saßen und standen eine Menge Leute jeden Alters, Kinder liefen umher, Hunde spielten. Es herrschte eine unglaublich freundliche und entspannte Stimmung. Die „Managerin“ war schnell ausgemacht und Formalitäten wurden erledigt. Als „Springerin“ wurde ich sofort geduzt, was mir völlig natürlich vorkam. Ulli (die Managerin) erklärte mir, wie bereits am Telefon, dass wohl eine längere Wartezeit auf mich zukäme, da ich dazwischengeschoben sei. Kein Problem. Der Tandemmaster würde mich irgendwann zur Trockenübung abholen, so lange könne ich ja ein wenig zusehen. Es war toll. Wir sahen mehrere Fallschirmspringer und Tandemspringer landen, das Flugzeug starten und landen und alles wirkte leicht und stressfrei und das obwohl ich mehrmals hörte, wie voll der Terminkalender heute sei. Das Wetter war traumhaft. Wir aßen Käsebrötchen und sahen bunte Schirme aus dem Himmel fallen, Kinder spielten verstecken und einer der Hunde bat jeden, er möge doch sein grünes Spielzeug für ihn wegwerfen. Ein Gedanke trübte diese Harmonie: Wer würde mein Tandemmaster sein??? Vielleicht ist er furchtbar unsympathisch und riecht nach Schweiß? Vielleicht ist es eine Supermodelsportblondine, die mir ihre Überlegenheit lächelnd spüren lässt, oder gar einer vom Typ „Rheinischer Witz“, der mit blöden Sprüchen versucht, mich zum Lachen zu bringen? - Mein Tandemmaster war Yorck. Sehr sympathischer, unkomplizierter Mann, der weder nach Schweiß noch sonstwie unangenehm roch, mir seine Überlegenheit nicht im mindesten spüren ließ, Humor hatte ohne Biergartenwitzchen zu reißen und von einem Modelblondchen nun rein gar nichts hatte. Er stellte sich vor und nahm mich mit in die Halle zum Ankleiden. Grauer Overall, in dem ich mit dem darunter befindlichen Pulli und der Jeans aussah wie Wurst in Pelle, was ich auch bemerken musste, von Yorck aber nur sehr galant aufgenommen wurde. Das anschließende Anlegen des Geschirrs und die Trockenübung auf dem Rasen erfolgte mit einer unglaublichen Ruhe und Sicherheit, selbst der dabei intensive Körperkontakt, war weder unangenehm noch wirkte er distanzlos. Nach dieser Einführung wäre ich mit Yorck wahrscheinlich auch ohne Fallschirm angstfrei aus dem Flugzeug gesprungen. Dann hatte ich wieder Pause, das Flugzeug musste zum Tanken und es war vorher noch eine andere Gruppe dran. Kurz bevor es losging lernte ich noch den Mann kennen, der meinen Sprung filmen sollte. Er war ebenso vertrauenerweckend und von so unglaublicher Freundlichkeit wie alle anderen. Ich hatte das Gefühl, alle schon ewig zu kennen. Dann - kurz vor Start - kam noch jemand zu mir, ich solle anderes Geschirr anlegen, meines gehört zu einem bestimmten Anzug und wurde jetzt benötigt. Altes Geschirr ab und neues rauf, wieder mit Hilfe eines mir fremden Mannes, wieder mit viel Körperkontakt, wieder gar nicht unangenehm, sondern einfach ganz normal, wieder sehr freundlich. Es wurden ein paar nette Sprüche gemacht und ich hatte meinen Humor auch nicht verloren, aber alles auf einem gebotenen Niveau, niemals plump oder anmachend.
 
Dann ging es los. Als ich mit „meinen“ Männern so über die Wiese zum Flugzeug ging, sie in Springeroveralls, ich in Pelle, war mir zumute, als wären wir ein wichtiges, mutiges „Heldenfliegerteam“ in gefährlicher Mission auf dem Weg zur Entdeckung der Leichtigkeit. Mitten auf der Wiese standen ein paar Bänke, auf denen schon 5 Männer saßen, die eindeutig mit ins Flugzeug wollten. Ich wurde lächelnd und mit Klatschhand begrüßt. Ich kannte alle schon ewig und seit 30 Sekunden. Das Flugzeug landete, Yorck griff meine Hand und eilte mit mir zur Maschine. Die Männer hinterher. Zuerst sprang Yorck in die Kabine, ich kletterte ächzend dazu, der Kameramann hüpfte behende hinein, ebenso 3 weitere Männer. Die Kabine war eindeutig voll. Kein Sitzplatz mehr zu haben, wir saßen leicht aneinandergequetscht. Zwei Männer standen noch draußen. So ein Flugzeug kostet viele Euro/Stunde, die wollen bezahlt sein. Mein Vorschlag demnächst eine Zeichnung zu machen wurde mit Humor aufgenommen, doch Yorck erklärte, dies sei der sportliche Teil beim Fallschirmspringsport. Nachdem die letzten 2 sich auf das Reststück Fußboden gequetscht hatten, wir alle die Luft kurz anhielten, damit die Tür geschlossen werden konnte ohne dass der letzte durch unsere Atembewegung wieder 2mm rausgedrängt wurde, was ein Einklemmen der Tür zu Folge hätte, ging es los. Der Flug war schon klasse. Die Fenster schienen mir größer als in den Chartermaschinen und auf Grund der geringen Breite der Maschine konnte man zu beiden Seiten raussehen. Mein Nebenmann saß ja auf dem Fußboden, so dass ich bequem über ihn hinwegsehen konnte. Wir stiegen höher und höher. Über Rendsburg hatte die Maschine 2000 Meter erreicht (praktisch: alle Männer hatten Höhenmesser am Handgelenk) und flog eine 180 Grad Kurve zurück zum „Hungrigen Wolf“. Während des Fluges machten die Männer diverse Konzentrationsübungen, Yorck überprüfte zum x-ten mal mein Geschirr und gab mir im Plauderton noch einmal alle Anweisungen. Daneben wurde gescherzt („Hey, Ute, du bist die einzige Frau an Bord. Das hebt das Niveau ungemein“ „Ja, das stimmt, und es riecht auch viel besser“).

Dann verstummte der Propeller, die Tür wurde aufgerissen und 5 Männer purzelten hinaus. Jeder auf seine Weise. Bei der Art, wie sie sprangen, fühlte ich mich ans Schwimmbad erinnert, wo die Badenden mal mit Köpper, mal mit Schraube, mal mit Arschbombe den Weg nach unten beginnen. Dann kam „mein“ Kameramann. Er stieg aus, hielt sich draußen am Flugzeug fest und wartete. An der Außenwand der Maschine war ein kleiner Tritt befestigt. Ich hatte gelernt, dass ich da meine Füße raufstellen sollte, den Kopf nach hinten legen und die Daumen in die Träger meines Geschirrs haken musste. Dann sollte ich die Füße vom Tritt nehmen, damit Yorck (mit dem ich mittlerweile untrennbar verhakt war), seine Füße zum Absprung auf diese schmale Stufe stellen könne. Das erste war leicht, doch als ich meine Füße von dem kleinen Halt zwischen Himmel und Erde nahm, dachte ich eine Sekunde: Ist er verrückt, dann fall ich doch raus!!! Gedacht, getan. Wir fielen mit 250km/h gen Erde. Es war unbeschreiblich. Ein Höllenlärm, der auch durch die attraktive Lederkappe kaum gemindert wurde und so nicht erwartet war, brach los. Ich hatte schmerzhaften Druck auf den Ohren und das Geschirr schnitt in meine Oberschenkel, aber das alles machte nichts, ich konnte es nach ca. 2 Sekunden sogar völlig ignorieren, weil der Eindruck, das Gefühl des freien Falls mit Blick auf unsere Erde unter mir und einem strahlend blauen Himmel über und irgendwie auch in mir so derart überwältigend war, dass selbst ein gezielter Kopfschuss mich nicht davon abgehalten hätte, dieses Gefühl weiter in mich aufzunehmen. Ich streckte die Arme aus, um alles, die Luft, die Farben, den Druck, den Rausch aufzunehmen, nichts an mir vorbei zu lassen.

Ich hab keine Ahnung, ob ich auch nur einen Bruchteil dessen, was Yorck mich gelehrt hat beachtet habe. Ich bin gefallen. Sorglos, gefahrlos, gedankenlos. Gefallen, wie man es im Leben so oft möchte, aber nie kann. Ich glaube niemand, wirklich niemand hat in den Momenten des freien Falls Probleme. Das Loslassen ist einfach zu perfekt.
 
Plötzlich war es still. Ich schwebte. Zugegeben dauerte es eine Weile bis mir klar wurde: Yorck hatte den Schirm geöffnet. Ich dachte der freie Fall dauert 50 Sekunden? Waren die schon vorbei? Ich hatte keine Zeit das zu bedauern, denn der nächste Genuss stellte sich ein. Schwerelos weit über der Welt zu schweben. Wie fühlen sich Vögel? Der Gedanke, einfach oben zu bleiben liegt so nah und ist so irreal. Yorck war ohne jedes Wort einsichtig. Wir flogen Kurven und machten Drehungen, während die Männer unseres gemeinsamen Propellerfluges von uns beim Landen beobachtet wurden.  Selbst das Flugzeug sah ich landen. Meine Ohren schmerzten lange nicht mehr (hatten sie es je getan???), der Boden kam näher, der Flug wurde langsamer - wir landeten sanft und sicher. Erster Impuls: Cool sein, aufstehen. Das ging nicht, ich war nach wie vor eng an Yorck geschmiedet und da er liegen blieb, blieb mir nichts anderes übrig. „Sieh nach oben, sieh dir den Schirm über uns an. Das ist der letzte Augenblick“ Ich sah! Dann wurde mir schmerzlich bewusst: Ich bin am Boden. Die Erde hat mich zurück, der Taumel, der Rausch, das Gefühl der Schwerelosigkeit und der Einmaligkeit ist vorbei. Ich blieb einfach liegen, sah in den strahlend blauen Himmel, in dem ich mich vor Sekunden noch befunden hatte, sah wie Yorck vor mir stand - wieso stand er vor mir? Wann hatte er sich entfesselt?
Das war das Zeichen zur Rückkehr.

Wir gingen zurück zur Halle. Er trug den Fallschirm, ich einen Ballon. Wir waren Sieger. Mission zur Entdeckung der Leichtigkeit erfolgreich abgeschlossen. Eine Urkunde, Fotos und ein Film werden für mich Unvergessliches ewig präsent sein lassen.

Ich habe etwas geschenkt bekommen, was wertvoller ist als alle irdischen Güter:

Ich habe den Himmel gespürt.


Ute Migdalek, Sprung 2005